KOLUMNE
DIE DIRTTE WELLE
Ein Meinungsbeitrag von Nina Höhne
Christoph Correll von der Charité Berlin prägte den Begriff „dritte Welle“ und meint damit psychische Erkrankungen, welche mit Corona-Maßnahmen in Verbindung gebracht werden können. Eine hohe – und steigende – Anzahl psychischer Erkrankungen ist nichts Neues, daher fordert unsere Autorin Nina Höhne, dass wir als Gesellschaft hinsehen. Und zwar so, als wären diese Leiden physisch sichtbar.
Ich muss länger darüber nachdenken, ob es Menschen in meinem engen Umfeld gibt, die nicht oder noch nie in Therapie waren oder sind. Die meisten meiner Freund*innen, inklusive mir, haben bereits psychische Krisen überlebt, tragen die ein oder andere Störung mit sich herum und haben auch Klinikaufenthalte hinter sich. Für uns: Normalität. Für die Gesellschaft: Stigma. Dabei kenne nicht nur ich, sondern wir alle Menschen mit Depressionen, Angststörungen oder auch Suchterkrankungen. Meine Frage daher: Wissen Sie davon eigentlich auch? Mehr als jede*r vierte Erwachsene in Deutschland, laut der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie 27,8 Prozent, sind von einer psychischen Erkrankung betroffen. Würden all diese Menschen auf Krücken durch die Uerdinger Innenstadt humpeln, würde dies vermutlich einen Aufschrei veranlassen. Aber so?
Die aktuelle Lage lädt nicht zur Beruhigung ein. Die Diagnosen für Depressionen, Angst- oder Belastungsstörungen sind bereits jetzt, das heißt, während der Corona-Pandemie, rapide gestiegen. Unsicherheit und Einsamkeit können dafür ein Grund sein. Möglich wäre aber auch, dass wir aktuell mehr mit uns konfrontiert sind. Jeden Abend Halligalli kann auch eine gute Ablenkung für das sein, was uns im Tiefen belastet und um Aufmerksamkeit buhlt. Ein in diesem Kontext ebenso nicht wenig bedeutsamer Fakt ist, dass Jede*r von uns anders betroffen ist: Der Single different als die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern, eine Selbstständige ungleich als der Angestellte und so weiter. Christoph Correll befürchtet, dass es vermehrt zu Depressionen, Sucht und Suizidversuchen kommt. Letztere sind sowieso viel zu hoch: in Deutschland sterben jährlich mehr Menschen durch Suizid als an Verkehrsunfällen, Drogen, AIDS und Mord zusammen. Im Alter von 15-24 ist Suizid die häufigste Todesursache. Haben Sie das gewusst? Dass es um unsere psychische Gesundheit nicht gut steht, ist nichts Neues. Wer darüber nichts weiß oder nichts hören will, verweigert sich der Realität und agiert ignorant.
Sich eigenständig und aktiv zu informieren ist jetzt notwendig, damit Anzeichen rechtzeitig erkannt werden. Das beginnt schon mit einer ernst gemeinten Erkundigung nach dem Befinden. Ich fordere, dass wir ein Klima schaffen, in dem sich Betroffene (noch mehr) trauen, sich zu öffnen und statt auf Stigma und Unwissenheit auf Interesse und Hilfe treffen. Denn auch das beugt psychischen Erkrankungen vor: sein zu dürfen, wie oder wer man ist. Schwäche und Schmerz zu empfinden, wenn sie da sind.
Die dritte Welle wurde bereits jetzt angemahnt. Sorgen wir uns also bereits jetzt darum, wie wir mit ihr umgehen wollen.
Wenn es Ihnen selbst nicht gut geht oder sie Traurigkeit, Leere oder Verzweiflung fühlen: es gibt Hilfe! Die Telefonseelsorge bietet rund um die Uhr und kostenfrei Beratung bei Sorgen und Krisen unter 0800-111 111, 0800-111 222 oder 116 123. Unter www.telefonseelsorge.de können Sie auch mit einem oder einer Seelsorger*in chatten. Das Krisentelefon Krefeld ist Montag bis Freitag von 9.00 bis 22.00 Uhr und am Wochenende sowie an Feiertagen von 9.00 bis 21.00 Uhr erreichbar unter 02151-653 52 53.
